"Die Selbstgerechten" - Dr. Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Prof. Dr. Eckhard Jesse

„Umstritten gilt nur jemand, der schweigt, aber sie polarisiert!“ – so Prof. Dr. Eckhard Jesse über Dr. Sahra Wagenknecht. Sahra Wagenknecht ist promovierte Volkswirtin, Politikerin, Mitglied des Bundestags für die Partei DIE LINKE und Publizistin. Zuletzt erschien von ihr „Die Selbstgerechten – Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“. Dieses Buch war Thema am Donnerstagabend, dem 13.10.2022, in der Aula unseres Gymnasiums. Im Rahmen von „Schule im Dialog“ diskutierte Prof. Dr. Eckhard Jesse mit Dr. Sahra Wagenknecht vor 200 Gästen über Inhalte ihres Buches sowie über tagespolitische Themen.

Zu Beginn leiteten Clara Fröhlich auf der Geige und Marianna Pöhlmann am Klavier die Veranstaltung ein. Anschließend übernahm Hassan Gata, Schüler der Jahrgangsstufe 12, die Begrüßung und Vorstellung der Gäste, bevor Xavier Wasinger „Hit the Road Jack“ auf dem Saxofon spielte.

Prof. Dr. Eckhard Jesse startete das Gespräch, indem er Satzanfänge vorgab, die Frau Dr. Wagenknecht vervollständigte. Wir erfuhren, dass es ihre größte Schwäche ist, sich als Politikerin nicht verbiegen zu können, was aber auch als Stärke gesehen werden kann. Ihr Buch „Die Selbstgerechten“ wurde von vielen Seiten wahrgenommen, diskutiert, zumal hochaktuell.

Ein zentraler Begriff des Abends war „Identitätspolitik“. Sahra Wagenknecht kritisierte in ihrem Impulsreferat die Moralisierung existenzieller Fragen der Politik, wie z. B. der Klimakrise. So könne keine Debatte über Lösungen in der Wirtschaft geführt werden. Vielmehr sehe sie darin den Versuch, Probleme mit einer Änderung des Lebensstils zu bewältigen. Wer kein Elektroauto fahre, wer sich nicht vegetarisch ernähre und wer nicht im Bio-Laden einkaufe, sei ein Klimasünder. Dabei spiele es keine Rolle, ob er sich das leisten könne oder nicht. Hier liege einer der Gründe für das Erstarken rechtsradikaler Kräfte, denn sie würden sich als einzige dagegenstellen. Eine ähnliche Problematik schilderte Frau Dr. Wagenknecht im Umgang mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. „Es sollte in jeder Demokratie Andersdenkende geben. Heute ist jeder Andersdenkende ein schlechter Mensch.“ Ein liberaler und demokratischer Diskurs scheint unmöglich geworden.

Dr. Wagenknecht schildert ihre Sorge um unsere Demokratie. Eine demokratische Gesellschaft lebt vom respektvollen Umgang mit anderen Meinungen. Deren moralische Herabstufung, die zunehmende Tabuisierung sowie Moralisierung bestimmter Themen begünstigen das Erstarken der Demokratiegegner ‒ „die unserem Land auf keinen Fall guttun werden“, so Frau Dr. Wagenknecht.

Frau Dr. Wagenknecht sprach von einer „Verschärfung des Meinungsklimas“, die offenen Debatten verhinderten. Es sollte zu jeder Zeit davon ausgegangen werden, auch der andere kann Recht haben. Deshalb sei die Fähigkeit, sich korrigieren zu können und eventuelle Fehler einzugestehen, von großer Bedeutung. Sie sprach auch die Sozialen Medien an. Manche Personen seien zu überzeugt von ihren Meinungen und denken, diese spiegele das Meinungsbild der gesamten Bevölkerung wider. Auf einzelnen Plattformen, z. B. auf Twitter, scheinen einige Menschen in einer Art Blase zu leben – ohne zu erkennen, dass es in der realen Welt noch andere Individuen, Denkweisen und Problemen gibt.

Frau Wagenknecht sieht sich nach wie vor als „Linke“, aber sie zieht einen Graben zwischen ihrer Definition vom Links-Sein und den „Lifestyle-Linken“. Das linke Spektrum habe sich ihrer Meinung nach stark geändert. Die Wählerschaft habe sich gewandelt. Linke Wähler waren früher eher Arbeiter, die ihre eigene Schicht und Probleme repräsentierten. Inzwischen seien es zunehmend Personen, die über ein mehr als durchschnittliches Einkommen und hohe Bildung verfügen. Wähler aus ärmeren Wohnbezirken fühlen sich nicht mehr vertreten, wo für einen modernen Lebensstil geworben werde – statt für soziale Gerechtigkeit. Für Menschen, die jeden Monat um ihr finanzielles Überleben bangen müssen, dürften Themen wie die Frauenquote oder „Diversity“ wenig relevant sein. Deshalb forderte Sahra Wagenknecht, eine soziale Kraft zu schaffen, die soziale Ausgeglichenheit herstellt, damit die Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriftet. Unter „links“ versteht sie Engagement, um soziale Gerechtigkeit herzustellen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und die Menschen zu unterstützen, die es nötig haben.

Ob sie mit ihrer harschen Kritik parteiinterne Widersacher bekehren bzw. für ihre Linie gewinnen kann, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Das Patentrezept für die Lösung unserer gewaltigen Probleme musste auch sie an dem Abend schuldig bleiben. In der abschließenden Fragerunde ging es jedenfalls ausgesprochen respektvoll zu. Nach der zweistündigen Veranstaltung nahm sich die Politikerin Zeit, mitgebrachte oder vor Ort erworbene Bücher zu signieren. Wir danken Frau Dr. Wagenknecht und Herr Prof. Jesse für den spannenden Abend.

Nele Kreipl & Helen Nürnberger 

Siehe auch: https://www.ardmediathek.de/video/fakt/sahra-wagenknecht-und-oskar-lafontaine-wie-sie-die-deutsche-politik-beeinflussen/das-erste/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy83NjRkYTc1ZS0yMzQ5LTRlNDktOGE1Yi00ZTlhNGY3YTliMTA

Fotos: A. Junghans, D. Seichter, N. Thiel