Manfred Casper leitete am 27.09.2023 seinen Vortrag über seinen Fluchtversuch in der DDR mit einem Gedankenexperiment ein: „Stellen Sie sich vor, man könnte in die Vergangenheit reisen, zurück in die Zeit der DDR.“ In der Aula lauschte gespannt der Jahrgang der 11. Klasse. Zu Beginn erzählte Herr Casper von seiner sorglosen und glücklichen Kindheit in Stollberg, wo er 1951 geboren wurde und aufgewachsen war.
Er erinnerte sich an eine liebevolle Familie, bestehend aus seiner Mutter, seinem Vater und seinen beiden älteren Brüdern. Die Ferienlagererlebnisse hinterließen ebenfalls positive Erinnerungen. Mit zunehmendem Alter spürte er jedoch die Einschränkungen in der DDR, vor allem im Vergleich zur BRD, die er gelegentlich durch Besuche bei seiner kranken Oma seit 1954 kennenlernte. Er sprach über Meinungsfreiheit, bessere Kleidung und vielfältigere Freizeitmöglichkeiten in der BRD, die ihn zunehmend zweifeln ließen. Besonders die Einschränkung der Meinungsfreiheit belastete ihn. Er berichtete, wie in der Familienrunde Witze über die DDR erzählt wurden, aber seine Mutter ihn davor warnte, diese weiterzuerzählen, da das gefährlich sei.
Er beschrieb sich selbst als „Freigeist“, was im Laufe der Zeit zu Problemen führte. In der Schule äußerte er sich kritisch, was sich negativ auf seine Noten auswirkte. Nach seinem Realschulabschluss strebte er an, Matrose zu werden, scheiterte jedoch aufgrund seiner fehlenden Parteimitgliedschaft, des Nichtbeitritts zur FDJ und an seinem Ruf als Kritiker. Stattdessen begann er eine Lehre als Baumaschinist. Nach dem Mauerbau 1961 durfte er die BRD nicht mehr besuchen, aber seine Hoffnung auf Veränderungen in der DDR hielt an, bis der „Prager Frühling“ 1968 scheiterte. Dann traf der 18-jährige Manfred die Entscheidung zu fliehen. 1969 plante er mit einem Schulkameraden einen Urlaub in Bulgarien und nutzte diese Gelegenheit zur Flucht nach Jugoslawien. Er informierte seine Familie und Freunde nicht, um sie zu schützen. An der bulgarisch-jugoslawischen Grenze wurde er jedoch entdeckt und festgenommen. In Sofia verbrachte er etwa drei Monate in Untersuchungshaft unter schrecklichen Bedingungen, wie unglaublicher Hitze und reiner Isolation. Anschließend wurde er nach damalige Karl-Marx-Stadt verlegt, wo er weitere Zeit in Untersuchungshaft verbrachte, bevor er seine Strafe in Cottbus für 1 Jahr und 5 Monate antrat. Er betonte, dass die Haftbedingungen in Karl-Marx-Stadt und in Cottbus besser waren. Er sah seine Gefängniserfahrungen als eine wertvolle „Schule des Lebens“ an.
1970 wurde er durch den Häftlingsfreikauf über das Aufnahmelager Gießen nach Braunschweig entlassen. Dort begann er ein neues Leben, er ließ sich zum Technischen Zeichner ausbilden, heiratete und bekam drei Kinder. Er erzählte, wie er zunächst seine Erinnerungen unterdrückte. Aber 1996, nachdem er seine Stasiakten entdeckt hatte, beschloss er, seine Erfahrungen zu teilen. 2019 veröffentlichte er sein Buch „Vom Wachsen der Flügel. Bis heute besucht er Schulen, um seine Lebensgeschichte zu erzählen.
In den letzten 20 Minuten stellte sich Manfred Casper den Fragen der Schüler. Einer fragte, ob es schwer für ihn gewesen sei, seine Familie lange Zeit nicht zu sehen, was er mit einem traurigen Nicken bestätigte. Die Zeit ohne seine Familie setzte ihm sehr zu. Besonders schwer war es, als sein Vater verstarb und er durch die Haft die letzte Zeit nicht mit ihm verbringen konnte. Eine weitere Frage betraf den Freikauf von Häftlingen. Er erklärte, die Bundesrepublik nutzte die wirtschaftlichen Probleme der DDR, die dringend Devisen brauchte, um die politischen Häftlinge freizukaufen. Schließlich bat er die Schüler, die Freiheit zu schätzen und zu bewahren, was von allen verinnerlicht wurde. Es gab einen großen Applaus für Manfred Casper, der (s)eine Geschichte geteilt hatte, die manche sicher nicht so schnell vergessen werden.
Aya Boublil
Gefördert von der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Fotos: D. Seichter