Trotz angeschlagener Stimme referierte Prof. Dr. Tom Thieme am 7. Juli 2022 am KKG im Zimmer S19 in kleiner Runde vor Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen 11 und 12. Nachdem Frau Seichter ihn kurz vorgestellt hatte, begann der Professor für Gesellschaftspolitische Bildung der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) mit seinem Vortrag. Im Rahmen der Schule im Dialog-Veranstaltung zum Thema Linksextremismus stellte er zunächst sein Buch „Gegen das System – Linker Extremismus in Deutschland“ vor.
Ein zentrales Thema sei der Begriff Extremismus. Gewalt könne, müsse aber nicht unbedingt vorliegen. Von Extremismus spreche man, wenn die Demokratie untergraben werde. Auf den linken Extremismus bezogen, gebe es große Verwerfungen zwischen den zahlreichen, stark gegensätzlichen Strömungen, erklärte uns Herr Thieme. Kommunismus und Anarchismus stellen die (gegenüberstehenden) Hauptströmungen dar. Ein einendes Element sei jedoch das Feindbild Staat. So rücke die Polizei als sichtbarste Repräsentation des Staates massiv ins Fadenkreuz. Zustrom erleben viele Gruppen durch Vermengung, z. B. mit Strömungen der Klimabewegung, die sich breiter gesellschaftlicher Popularität erfreuen. Dennoch spiele beispielsweise die KPD mit maximal 0,5 Prozent der Stimmen politisch kaum eine Rolle. Ähnlich stehe es um die Kommunistische Plattform der Partei DIE LINKE, welche als offen linksextrem gelte. Deren Behauptung, sie würden den wahren Volkswillen vertreten, prangerte er besonders an. Dies sei bei allen extremistischen Bewegungen zu beobachten. In diesem Punkt gebe es Parallelen mit der Querdenker-Bewegung. Herrn Thieme war es wichtig, nicht zu pauschalisieren, was er an der Begriffskritik des Linksextremismus verdeutlichte. Kapitalismuskritik und demokratischer Sozialismus seien legitime Einstellungen, soziale Gerechtigkeit sei ein grunddemokratisches Anliegen. Linksextremismus fange jedoch bei Zielen wie der Systemüberwindung an. Die Übergänge gestalten sich fließend, was es vielen erschwere, die Grauzonen und wahren Absichten der Akteure zu erkennen. Diesem Problem müssen sich auch Herr Thieme und die angehenden Polizisten stellen. Seine Antwort auf diese komplexe Sachlage: Die Toleranz muss dort aufhören, wo die Demokratie gefährdet ist. Zum Beispiel darf der Kampf gegen Rechtsextremismus nicht mit linksextremem Antifaschismus gleichgesetzt werden.
Ein weiteres Phänomen stelle die sogenannte Autonome Szene dar. Diese anarchistische, lose vernetzte Bewegung, die aus der Hausbesetzungs- und Anti-AKW-Bewegung entsprang, strebe nach eigenständigen Gemeinschaften, unabhängig von der bestehenden Gesellschaftsordnung. Spannungen und Gewaltbereitschaft entstehen besonders dann, wenn Investoren durch Käufe die Immobilienpreise in die Höhe treiben. Das als Gentrifizierung bezeichnete Phänomen treffe die gesamte Bevölkerung und sei ein ernstzunehmendes Problem. Dennoch sei es unakzeptabel, wenn in den kommunenartigen Wohngemeinschaften rechtsfreie Räume entstehen. Dagegen seien „Freiräume”, in denen jeder nach seiner Fasson leben kann, ausdrücklich gewünscht, fügte Herr Thieme hinzu.
Für eine präzisere Einordnung sei der Blick auf die Größenverhältnisse und Zahlen der Szene dienlich. In Deutschland sind 100.000 Extremisten erfasst. Von den 30.000 Linksextremisten gelten rund 10.000 als gewaltbereit. Viele Aussteiger pflegen ihre Sympathien für die Szene und beteiligen sich an Großdemonstrationen, wie der G20-Gipfel in Hamburg zeigte. Verbindend wirke die Internationalität. Zu besagten Demonstrationen kämen Befürworter aus ganz Europa. Social-Media eröffne Organisationsmöglichkeiten für die sonst eher strukturlose Szene, die Hierarchien strikt ablehne – vor allem unter den Anarchisten. Anders als in der rechtsextremen Szene gestalten sich Ein- und Ausstieg relativ unproblematisch. Ein weiterer Unterschied zu den Rechtsextremisten: Die Anhängerschaft rekrutiere sich vornehmlich aus der städtischen Mittelschicht mit höherem Bildungsgrad, so Herr Thieme. Männer seien überproportional vertreten. Diese Angaben müsse man mit Vorsicht betrachten – angesichts der dünnen Datenlage. Die Szene gilt als wenig gesprächig. Der Professor sieht in dem Protest gegen das System auch eine Form der Selbstverwirklichung, die zum Teil mit „jugendlichem Abenteuerdrang” in Verbindung gebracht werden könne.
Zwischen rechter und linker Gewalt gebe es eine starke Kohärenz. Mit Anstieg rechter Gewalttaten, z. B. im Zuge der „Flüchtlingskrise” von 2015, steige die Zahl der linken Gewalttaten, welche sich gezielt gegen Individuen der rechtsextremen Szene richteten. Eine Tendenz, die sich zeige: Während Sachbeschädigungen durch linksextreme Gewalt dort bislang dominierten, kämen nun vermehrt physischer Gewalttaten hinzu. Ein Drittel der verzeichneten linksextremen Straftaten waren Körperverletzungen. Bei Rechtsextremen weisen die Zahlen Körperverletzungen unverändert mit einem Anteil von 80 bis 90 Prozent der verübten Straftaten aus, wobei fraglich ist, ob jede Gewalttat zur Anzeige kommt.
Die erste Frage an Prof. Thieme lautete: Ist die Polizei rechts? Ein komplexes Thema. Die Polizei prägen hierarchische Aufbau- und Befehlsstrukturen. Und natürlich gibt es eine gewisse Notwendigkeit für Gewaltanwendung. Nicht nur in Sachsen spiegelt die Polizei keinen Querschnitt der Bevölkerung wider: Menschen mit Migrationshintergrund und auch Frauen sind unterrepräsentiert. Außerdem sei Polizist ein besonderer Beruf. Man habe ständig Kontakt mit dem „Bodensatz” der Bevölkerung. So entstehe ein Gefühl der Vergeblichkei, wobei Denkmuster entstehen, die sich verhärten, z. B. in Bezug auf das Bild von Zugewanderten. Herr Thieme fügte hinzu, dass sich Polizisten in Anbetracht ihres Berufsbildes klar machen müssten, dass sie genau solche Umstände erfahren und erleben. Dies kann aber keineswegs das gesamte Bild sein. Niemand ruft die Polizei, wenn etwas Gutes passiert. Alles in allem könne man sagen, es gäbe, wie in der gesamten Gesellschaft, Fälle rechter Gesinnung. Gleichsam versicherte er jedoch höchste Konsequenz und einen Null-Toleranz-Ansatz. Rechtes Gedankengut muss scharf bekämpft werden.
Eine weitere Frage bezog sich auf die Zustände der Polizei in den USA. Haben wir Ähnliches zu befürchten? Stichwörter waren Militarisierung und allgemeine Polizeigewalt. Hierauf antwortete Herr Thieme, dass sich so etwas wohl nicht in Deutschland ereignen könne. Es gibt strenge Sicherheitsvorschriften und Kontrollmechanismen. Bei der Ausbildung der Polizisten wird großer Wert auf eine demokratische und verantwortungsbewusste Einstellung gelegt. Er selbst tue sein Bestes, versicherte er. Die letzte Frage umfasste den Bereich der Finanzierung. „Stehen der Polizei und Ihnen als Professor in der Lehre genug Mittel zur Verfügung?” Ja, es gäbe ausreichend Mittel. Eine Tücke gibt es: Werden mehr Verbrechen gemeldet, sagte er, entstehe das Bild, die Polizei tue nicht genug. Werden weniger Verbrechen gemeldet, könne man Mittel anderswo einsetzen. Außer Acht bleibt, dass fehlende Mittel die Polizeiarbeit schlicht weniger gut funktionieren lassen, weil weniger Straftaten verfolgt werden können. Eine ausreichende Finanzierung der Polizei sei wichtig, auch wenn die öffentlichen Mittel nicht unbegrenzt sind.
Schnell vergingen die 90 Minuten. Eine Vorlesung, eine Fragerunde. Tiefe Einblicke und neue Erkenntnisse. Ein gestärktes Demokratieverständnis. Das Gehörte über den Links- und Rechtsextremismus fiel bei den Zuhörern auf fruchtbaren Boden. Sie werden sich noch lange an den Morgen erinnern und vieles von dem Gelernten in zukünftigen Auseinandersetzungen nutzen können. Wir hoffen, Herr Prof. Thieme erfreut sich einer schnellen Genesung. Im Namen der Schülerschaft danken wir ihm (und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung) vielmals.
Antonia Hugel & Oliver Baron
Die Veranstaltung förderte die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung.