„Es herrscht die Sichtweise, dass man das einzige Opfer ist. Ich denke, allein schaffen sie es nicht.“ Diese Worte hörten wir am Mittwoch, dem 30. Oktober 2024, von Frau Dr. Muriel Asseburg. Sie ist Expertin für Nahostpolitik und gab uns an diesem Abend tiefgehende Einblicke in die aktuelle Konfliktlage, die zwischen Israel und Palästina herrscht.
Nastassja Kubosch und Eva Yang moderierten die Veranstaltung. Eva begrüßte die 190 Gäste auf dem Klavier mit einem Chopin-Prélude. Beide leiteten in das Thema des Abends ein und stellten Frau Asseburg und ihre berufliche Entwicklung vor. Die in Stuttgart geborene Politologin arbeitet bereits seit vielen Jahren am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik. Besonders prägend war für sie das Jahr 1991, in welchem sie zum ersten Mal nach Israel reiste. Dort verstand sie, wie nah die Leute zusammenleben und wie schwierig sich ihr Miteinander gestaltet – eine Erfahrung, die sie nachhaltig prägte.
Ihr Vortrag war in drei Hauptthemen gegliedert: Das israelisch-palästinensische Verhältnis und die Ereignisse des 7. Oktobers 2023, die Wahrnehmung der Situation durch die betroffenen Bevölkerungen und eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklungen. Dr. Asseburg betonte: Direkte militärische Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina sind nichts Neues. Warum der 7. Oktober jedoch einen besonderen Einschnitt markiert, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Die Hamas – eine terroristische Vereinigung – ermordete an diesem Tag 1.200 Menschen und verschleppte rund 250 Geiseln in den Gazastreifen. Neben hunderten abgefeuerten Raketen drangen Kämpfer in Kibbuze und Städte ein. Außerdem überfielen sie die Besucher eines Musikfestivals. Der Generalsekretär des Weltsicherheitsrats hob hervor, dass diese Angriffe nicht aus einem Vakuum heraus geschehen sind. Es liegt ein Konflikt zugrunde, der weit vor dem 7. Oktober begann.
Die Ursachen des Konflikts reichen mindestens bis zur Staatsgründung Israels im Jahr 1948 zurück. Zur Vertiefung der historischen Zusammenhänge begann ihre Ausführungen Frau Dr. Asseburg mit dem Jahr 2007 − dem Jahr, in dem die Hamas die Macht im Gazastreifen übernahm und Israel die Region weitgehend abriegelte. Seitdem kam es regelmäßig zu militärischen Auseinandersetzungen, die selbst nach den Jahren 2008, 2009, 2012, 2014 und 2021 kein Ende finden sollten. Die Bevölkerung des Gazastreifens ist durch diese jahrelangen Konflikte tief traumatisiert. Sie ist weder vor Bombardierungen geschützt noch in der Lage, aus dem Gebiet zu flüchten.
In den letzten Jahrzehnten liegt der Fokus der palästinensischen Region fast ausschließlich auf dem bewaffneten Kampf zur Befreiung, wodurch andere Entwicklungen stark vernachlässigt wurden. Die dadurch entstandene humanitäre Krise lässt jungen Menschen kaum Perspektiven. Die Machtübernahme der Hamas führte zusätzlich zu einer Spaltung innerhalb Palästinas. Trotz der vielen Bemühungen, eine palästinensische Regierung zu bilden, ist seit langem keine Veränderung sichtbar – die letzten Verhandlungen fanden 2014 unter US-Präsident Barack Obama statt.
Da Benjamin Netanjahu, der Ministerpräsident Israels, das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan für sich beansprucht, scheint es aus israelischer Sicht keinen Platz für einen palästinensischen Staat zu geben. Nach den Ereignissen des 7. Oktober formulierte die israelische Regierung drei Kriegsziele: Die Zerschlagung der Hamas, die Befreiung der Geiseln und die Sicherung der Bevölkerung sowie des israelischen Staatsgebietes. Frau Dr. Asseburg stellte fest: „Keines dieser Ziele konnte bisher vollständig erreicht werden.“ Nach der Zerstörung von Waffenarsenalen und zentralen Stellungen der Hamas bleibt diese sowohl politisch als auch militärisch weiterhin aktiv. Aktuell setzt die Terrororganisation allerdings eher auf Guerillaaktionen. Von den entführten Geiseln befinden sich immer noch 101 in der Hand bewaffneter Gruppierungen, die diese Menschen als Druckmittel für Waffenruhe-Verhandlungen ausnutzen. Das Expertenteam um Frau Dr. Asseburg nimmt an, dass viele der Geiseln bereits ums Leben gekommen sind.
Der Krieg hat zudem gravierende Auswirkungen auf die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen: Aktuell gibt es 42.000 Tote, 100.000 Verletzte und 10.000 Vermisste, wobei 90 Prozent der Menschen im Gazastreifen nun Binnenflüchtlinge sind, die keinen sicheren Ort zum Leben haben. Krankheiten und Seuchengefahr breiten sich in den Flüchtlingscamps aus, und sogar der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird der Zugang oft verwehrt. Die umfassende Zerstörung der Gesundheitszentren und Bildungseinrichtungen bedeutet, dass der Gazastreifen voraussichtlich größtenteils unbewohnbar bleiben wird.
Die Expertin schilderte ihre Erfahrungen über die verschiedenen Ansichten der betroffenen Bevölkerungen. Die israelischen Einwohner nehmen den 7. Oktober und den Krieg als Zäsur wahr. Er sei nicht nur als Angriff auf die Sicherheit zu betrachten, sondern vielmehr als Pogrom gegen die jüdische Gemeinschaft. Die Ereignisse haben das Traumata der Shoa wieder erweckt. Die palästinensische Bevölkerung hingegen relativiere die Aktionen der Hamas – z. B. würden die Terrorakte als israelische Propaganda abgetan. Für viele symbolisiere das Durchbrechen der Grenzanlagen am 7. Oktober den erstmaligen Widerstand gegen die Übermacht Israels. Deren Reaktionen werden nicht nur als Antwort auf den eigenen Angriff wahrgenommen, sondern als expliziter Krieg gegen das palästinensische Volk. Demnach kommen immer wieder Begriffe wie „Völkermord“ oder „Genozid“ auf. Denn auch bei den Palästinensern erwachte ein Trauma erneut: die Nakba. Damit verbinden die Menschen den Schrecken und das Leid der Vertreibung und Flucht vor und nach 1948.
Die „historischen Traumata beider Seiten“ und „die fehlende Empathie füreinander“ sorgen für den Fortbestand der Gewalt, meinte Frau Dr. Asseburg. Jede Seite strebe Vergeltung an, sieht die andere Seite aber als ungleichwertig und stellt sich selbst in die Opferrolle. Das erkläre die Notwendigkeit einer Lösung von außen, da die Parteien allein keine friedliche Lösung finden können.
Diesem Lösungsbestreben folgen diplomatische Bemühungen der USA, Europas und der arabischen Staaten. Diese seien „in ihren Ansätzen weitgehend konform“. Einigkeit herrscht darüber, dass ein diplomatischer Prozess zu einer sogenannten zwei Staatenreglung führen muss. Es darf keine Vertreibung mehr geben, ebenso wenig wie eine dauerhafte militärische Präsenz einer der beiden Seiten. In einer Übergangsphase soll die palästinensische Autonomiebehörde den Gazastreifen verwalten. Aktuell scheint das nicht realisierbar: Die Autonomiebehörde kann das Westjordanland kaum kontrollieren, und arabische Staaten verweigern die Unterstützung des Wiederaufbaus in Gaza, solange eine israelische Besatzung besteht. Israel fordert eine dauerhaft militärische Operationsfähigkeit. Deshalb gibt es derzeit keinerlei Fortschritt in den Verhandlungen.
Frau Dr. Asseburg befürchtet, die Konflikte in dieser destabilisierten Region könnten sich noch weiter ausbreiten und sogar Angriffe auf westliche Ziele nach sich ziehen. Die Destabilisierung könnte sich „über die Konfliktherde weitertragen“, und so ist sogar ein nukleares Wettrüsten am Arabischen Golf nicht auszuschließen. Dr. Asseburg beendete ihren Vortrag mit einem Aufruf: Es bleibe essenziell, dass Menschen sowohl vor Ort als auch hier weiterhin für Frieden und gegen die Eskalation arbeiten – selbst, wenn sie nur wenig Unterstützung erfahren, sollten diese Kräfte anerkannt und gefördert werden.
Das Publikum hatte viele Fragen an Frau Asseburg, z. B. welche Auffassung sie zum Begriff „Genozid“ habe. Dazu berichtete sie, dass sie es vermeide, den Begriff „Genozid“ im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen zu nutzen. Ihrer Meinung nach kann nur der Internationale Gerichtshof klären, ob die Situation unter diesen Begriff fällt. Sie erklärte, der juristische Begriff „Völkermord“ beinhalte spezifische militärische Maßnahmen, die darauf abzielen, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu vernichten. Eine solche Absicht ist jedoch schwer nachzuweisen und erfordert umfassende juristische Untersuchungen. Laut Dr. Asseburg lassen sich auf beiden Seiten des Konflikts Verbrechen feststellen: Die Hamas ermordet Zivilisten und nimmt Geiseln, während Israels Krieg und Maßnahmen die Bevölkerung im Gazastreifen und in den umliegenden Kriegsgebieten in eine humanitäre Katastrophe stürzen.
Wer trägt die Schuld? Dr. Asseburg bezog sich erneut auf die tiefverwurzelte Geschichte. Sie verwies auf die Situation der Juden in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, als Antisemitismus zur Entstehung des Zionismus führte. Viele Juden wanderten nach Israel aus, um Schutz und ein neues Zuhause zu finden. Die Entscheidungen der britischen Kolonialmacht wurden über die Köpfe der Betroffenen hinweg getroffen. Nicht zuletzt spielten die Nachwirkungen des Holocausts und der Gründung Israels eine Rolle.
Habe sich der Antisemitismus in Deutschland seit Kriegsbeginn verändert? Dies bejahte Dr. Asseburg. So sei dieser in Hinblick auf die jüngsten Konflikte sichtbarer geworden. Viele Juden in Deutschland fühlen sich unsicher und sind verängstigt, da es in einigen Städten vermehrt zu aggressiven Demonstrationen gekommen ist, auch an deutschen Universitäten. Selbst wenn nicht jede Demonstratione als antisemitisch angesehen werden kann, erzeugt die Situation für jüdische Gemeinden ein unsicheres Umfeld.
Luca Bammel und Eric Heinrich
Fotos: D. Seichter