Wir alle kennen Geschichten von geglückten Fluchten aus der DDR in die Bundesrepublik, aber nicht allen gelang diese Grenzüberschreitung. Am Montag, dem 25. April, war Friedmar Sonntag an unserem Gymnasium zu Gast und berichtete den gespannt zuhörenden Schülerinnen und Schülern der 9. bis 12. Klassen von seinem Fluchtversuch, der scheiterte und ihn ins Gefängnis brachte. Er war damals erst 18 Jahre alt.
Friedmar Sonntag stammte aus einer christlichen Familie und stieß frühzeitig an die von der SED gezogenen gesellschaftspolitischen Grenzen. Er war kein Mitglied der Jungpioniere und bekam die Konsequenzen seines Glaubens in der gesamten Schullaufbahn zu spüren. Trotz makelloser Noten hieß es auf seinem Abschlusszeugnis: „Friedmar ist kein Mitglied der FDJ.“ An die Zulassung zum Abitur war nicht zu denken. Nicht nur daraus entwickelte er eine Abneigung gegenüber der SED-Diktatur. Und er hegte erste Fluchtgedanken.
Mit 18 Jahren verbrachte er mit Freunden den Sommerurlaub in Ungarn. Am Balaton lernte er ein hübsches, blondes Mädchen aus Stuttgart kennen. Unsterblich verliebt, wie er war, beschloss er die Flucht über die nahe österreichische Grenze zu wagen. Wie sonst hätte er das Mädchen nach diesem Urlaub wiedersehen können? Sein Freund entschied sich kurzerhand, mit ihm die Flucht zu wagen.
Unglücklicherweise liefen sie ungarischen Grenzposten in die Arme, sie wurden festgenommen und in Budapest inhaftiert. Nach vier Wochen überführten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit ihn nach Karl-Marx-Stadt, wo er bis zu seinem Urteil sieben Monate auf dem Kaßberg in Untersuchungshaft verbrachte. Der Verhandlung musste seine gesamte Schulklasse beiwohnen: zur Abschreckung vor den Konsequenzen eines Fluchtversuches. Beinahe erleichtert vernahm Friedmar Sonntag das Urteil: 18 Monate Haft. Er hatte mit noch Schlimmerem gerechnet. Die Haftzeit trat er in Cottbus an, wo er das erste Mal auf andere politische Gefangene traf. Sie rieten ihm, einen Ausweisungsantrag zu stellen, was den Freikauf durch die Bundesrepublik nach sich zog. Nach wenigen Monaten erfüllte sich sein größter Wunsch: Am 12. Dezember 1972 wurde er für 40.000 D-Mark freigekauft. Bevor es jedoch in den Westen ging, fand er sich noch ein weiteres Mal nach Karl-Marx-Stadt wieder. Diese Station durchliefen alle freigekauften politischen Häftlinge, weil die SED ihre Gefangenen erst noch etwas „aufpäppeln“ wollte. Von Karl-Marx-Stadt fuhr er in einem Westbus nach Gießen, ins Aufnahmelager. Seinen Eltern sendete er ein Telegramm. In Ludwigsburg, bei seiner Tante, begann nach 17 Monaten Haft sein neues Leben in Freiheit. Seine „große Liebe“ hatte jedoch nicht auf ihn gewartet, doch davon ließ sich Herr Sonntag nicht beirren und ging seinen Weg. Er studierte, fand Arbeit und gründete eine Familie.
Nach dieser spannenden Erzählung beantwortete Herr Sonntag Fragen der Schüler, aber leider war die Zeit schon weit fortgeschritten. Erschütternd, mit welchen Einschränkungen und unverhältnismäßig harten Strafen der SED-Staat auf Andersdenkende und Unangepasste reagierte.
Karl Gagsch
Fotos: Daniel Sonntag